Im Jahr 1920 präsentierte der deutsche expressionistische Dramatiker und Theatervisionär Lothar Schreyer sein Werk Kreuzigung, das in vielerlei Hinsicht eine Ikone der Avantgarde-Theaterkunst wurde. Die Premiere war das Ergebnis von über einhundert intensiven Proben und stellte zugleich den Höhepunkt seiner experimentellen Theaterarbeiten dar. Obwohl die Aufführungen nur wenige Male stattfanden und das Werk bei einem breiten Publikum auf Skepsis stieß, entfaltet Kreuzigung eine kunsthistorische Bedeutung, die weit über seine Zeit hinausreicht und tief in der Geschichte der modernen Theater- und Performancekunst verwurzelt ist. Schreyer verstand sein Theater nicht als bloße Nachahmung des Lebens, sondern als eine Sprachform – eine „Sprache der Form“ –, die mit abstrakten Mitteln eine neue Dimension des Ausdrucks schuf. In seinem Stück wurde das biblische Motiv der Kreuzigung in eine postkriegszeitliche, fast mystische Szenerie versetzt und der Christus-Figur die Rolle des „Mannes“ zugewiesen, der inmitten von Mutter und Herrin als geometrische Silhouette mit leuchtendem roten Kreuz auf der Bühne erscheint.
Die Charaktere bewegten sich hinter großen, kubisch anmutenden Ganzkörpermasken, welche die menschlichen Züge stark abstrahierten und so den Fokus auf Bewegung und symbolische Gestik lenkten. Dabei waren die Masken und die Illustrationen des Stücks das Meisterwerk der Künstler Max Billert und Max Olderock, die durch aufwendige Holzschnitte das visuelle Erscheinungsbild des Werks prägten und maßgeblich zur einheitlichen Ästhetik beitrugen. Schreyer wollte mit Kreuzigung ein Kosmisches, ein Spiegel der Einheit allen Lebens schaffen. Das Stück selbst erschien nicht als klassisches Theaterstück, sondern in Form eines sogenannten Spielgangs, eines deutschen Kunstneologismus, der die künstlerisch-dramaturgische Absicht betont: eine Choreografie aus Klang, Bewegung und Form, festgehalten in einem komplexen grafischen Notationssystem. Dieses systematische Arrangement auf rund siebzig Seiten bringt Bühne und Performance auf den Punkt, indem sie durch Farben, geometrische Symbole und Worte ein universell lesbares Konzept schaffen, ähnlich einer Partitur in der Musik.
Die Notation ist in drei Zeilen gegliedert, die das Skript, den „Tonsequenz“ genannten Klangrhythmus sowie die Bewegungsanweisungen erfassen. Diese extrem reduzierte und mystisch anmutende Strenge spiegelt Schreyer’s Vision wider, eine Theaterform zu schaffen, die der alltäglichen Sprache und natürlichen Darstellung entgeht und dadurch eine tiefergehende, archetypische Emotion weckt. Darin ähnelt er dem Künstler Wassily Kandinsky, der von der „reinen Form“ im Theater sprach, frei von Realitätsbezug, damit Theater als universelle Sprache fungieren kann. Schreyer selbst war ab 1921 Dozent am legendären Bauhaus in Weimar, wo er seine Theaterexperimente weiter vorantrieb. Seine Arbeit beeinflusste dort nicht nur das Theater, sondern auch den modernen Tanz, ganz im Sinne einer interdisziplinären Avantgardebewegung.
Besoldung und Profession waren für Schreyer dabei nebensächlich. Er bestand darauf, dass seine Stücke nur von No-Professionals aufgeführt werden sollten, also Menschen, die frei von den Zwängen klassischer Schauspielkunst und Theaterbetrieb waren. Mit dieser Strategie schuf er eine Abstraktion der menschlichen Bewegung, die sich auf Hüft- und Armbewegungen, Halbdrehungen, Kniebeugen, Gesten und allgemeine rhythmische Abläufe reduzierte. Die steifen, liturgisch anmutenden Dialoge des Stücks bestachen durch ihre Wiederholungen und Disjunkturen und wirkten mehr wie ein ritueller Gesang oder eine mystische Beschwörung als ein historisches Drama. Das Publikum war, ganz im Stil der expressionistischen Avantgarde, auf einen inneren Zirkel von künstlerisch Interessierten beschränkt und die Presse wurde bewusst von Schreyer ferngehalten, um sein Werk vor dem Verriss einer breiten Öffentlichkeit zu bewahren.
Dieses Vorgehen und die experimentelle Natur seiner Inszenierung führten dazu, dass seine Aufführungen trotz ihrer Bedeutsamkeit nur selten stattfanden und nicht in die breitere Theatergeschichte eingingen. Dennoch spiegelt das 1920 veröffentlichte Buch zum Stück mit seinen handkolorierten Holzschnitten und dem Notationssystem einen einzigartigen künstlerischen Moment wider, der bis heute bewundert wird. Die kleinen Auflagen der Bücher sind zu begehrten Sammlerstücken geworden und dienen als wichtige Quellen für die Erforschung der Verbindung zwischen Grafik, Typografie, Performance und Theater in der Moderne. Kreuzigung steht für einen radikalen Bruch mit der traditionellen Theaterästhetik der Weimarer Republik und markiert den Übergang zu einer Kunst, die Form, Farbe und Bewegung als eigenständige Elemente anerkennt. Die Betonung auf der Sprache der Form schuf eine neue Bühnenästhetik, die das Wesen menschlicher Existenz und die spirituelle Dimension durch abstrakte Symbolik erforscht.
Die Nachfolge Schreyer’s am Bauhaus trat Oskar Schlemmer an, dessen Bühnenarbeiten die Ideen von Schreyer weiterentwickelten und das Bauhaus-Theater zu einer der tragenden Säulen moderner Performancekunst machten. Schlemmer griff die von Schreyer eingeführten Konzepte von geometrischer Abstraktion und choreographiertem Tanz auf und formte daraus ein Theater des Körpers und der Formen, das international bekannt wurde. Das Vermächtnis von Schreyer lebt daher nicht nur in den erhaltenen Druckwerken, sondern auch in der Art und Weise fort, wie wir heute das Zusammenspiel von Design, Bewegung und Bühnenbild im Theater betrachten. Lothar Schreyer war damit einer der frühen Impulsgeber für einen radikal neuen Theaterbegriff, der über das Dargestellte hinausging und Theater als Form- und Farbkunst verstand. Er wandte sich gegen konventionelle, naturalistische Dramaturgie und legte den Grundstein für eine abstrakte Performance, die den Zuschauer auf einer grundlegenden emotionalen und symbolischen Ebene berührt.