Im Jahr 2012 entdeckten Wissenschaftler einen außergewöhnlichen Anstieg des radioaktiven Kohlenstoffisotops 14C in Baumringen aus den Jahren 774 bis 775 nach Christus. Dieser sogenannte 774–775 Kohlenstoff-14-Spike zeigte eine Erhöhung der 14C-Konzentration um etwa 1,2 Prozent, was etwa 20-mal höher als die übliche jährliche Schwankung in der Atmosphäre ist. Diese Entdeckung, welche zunächst an japanischen Zedern erfolgte, wurde durch Dendrochronologie präzise datiert und gilt heute als eines der markantesten kosmischen Ereignisse der letzten Jahrtausende. Gleichzeitig wurde in antarktischen Eiskernen ein Anstieg von Beryllium-10 (10Be) festgestellt, einem weiteren Indikator für erhöhte kosmische Strahlung, der das Ereignis weltweit belegt. Die globale Ausbreitung der 14C-Erhöhung wird durch Funde in Baumringen verschiedener Regionen untermauert, darunter Deutschland, Russland, die Vereinigten Staaten, Finnland und Neuseeland.
Ein solch breites geographisches Vorkommen belegt, dass das Ereignis nicht lokal begrenzt war, sondern eine weltweite Auswirkung auf die Erdatmosphäre hatte. Die schnelle Zunahme und der anschließende langsame Rückgang der 14C-Konzentration sprechen für eine kurzfristige, aber intensive Produktion des Elements in der Atmosphäre, vermutlich ausgelöst durch externe energetische Strahlungseinwirkung. Die Hauptthese zur Ursache des 774–775 Spikes ist die eines extrem starken solaren Sonnensturms oder einer intensiven solaren Teilchenwolke. Dabei wird angenommen, dass ein außergewöhnlich heftiger Sonnensturm der stärkste seiner Art in der bekannten Geschichte war und dabei eine enorme Menge energiereicher geladener Teilchen auf die Erde schleuderte. Diese energiereichen Teilchen kollidierten mit Stickstoff in der Erdatmosphäre, wodurch vermehrt Kohlenstoff-14 und andere sogenannte kosmogene Radionuklide wie Beryllium-10 und Chlor-36 entstanden sind.
Diese Hypothese wird durch das gleichzeitige Auftreten dieser Isotope in entsprechenden Umweltarchiven gestützt und gilt heute in der wissenschaftlichen Gemeinschaft als am wahrscheinlichsten. Alternativ wurde auch über die Möglichkeit eines galaktischen Gammastrahlenblitzes – einer kurzzeitigen hochenergetischen Strahlenquelle aus dem Universum – spekuliert. Diese Theorie findet jedoch weniger Zustimmung, da ein solcher Gammaausbruch nicht das beobachtete Muster und die Zusammensetzung der Isotope in der Atmosphäre erklären kann. Gamma-Strahlen erzeugen typischerweise nicht vergleichbare Mengen an Beryllium-10, weshalb die Kombination der Isotopdaten eher auf geladene Teilchen eines Sonnenereignisses hinweist. Auch historische Dokumente bieten interessante Hinweise auf mögliche visuelle Phänomene, die mit dem Ereignis in Verbindung gebracht wurden.
Eine Eintragung in der angelsächsischen Chronik beschreibt ein „rotes Kreuz nach Sonnenuntergang“ im Jahr 774, welches von Historikern unterschiedlich interpretiert wird. Einige vermuten eine Sichtung einer Supernova oder andere astronomische Erscheinungen, wohingegen andere Forscher in dem beschriebenen roten Kreuz eine Polarlichtaktivität sehen. In China dagegen gibt es einen isolierten Bericht über eine Aurora im Januar 776 sowie Berichte über ungewöhnliche Wetterphänomene wie einen schweren Gewittersturm im Jahr 775, was auf erhöhte atmosphärische und elektromagnetische Aktivitäten hindeuten könnte. Das Verständnis der Häufigkeit solcher Ereignisse ist für Wissenschaft und Technik von Bedeutung. Der 774–775 Kohlenstoff-14-Spike ist das stärkste bekannte kosmogene Isotopenereignis der letzten 11.
000 Jahre, dennoch sind ähnliche, wenn auch weniger ausgeprägte Ereignisse belegt, etwa das Jahr 993–994. Frühere Ereignisse traten teilweise bereits vor mehreren tausend Jahren auf. Im Jahr 2023 wurde sogar ein noch älterer, aber noch stärkerer Spike aus der Zeit um 12.350 v. Chr.
dokumentiert, was auf eine größere Häufigkeit und Varianz solcher kosmischen Ereignisse im Verlauf der Erdgeschichte hinweist. Für das tägliche Leben wurden diese Ereignisse historisch als folgenlos eingestuft, da damals die Technik, elektronische Geräte und Satelliten nicht vorhanden waren. Dennoch wäre ein solch intensives Sonnenereignis für die moderne technisierte Welt potenziell katastrophal. Sonnenstürme dieser Stärke könnten Satellitenkommunikation stören, Navigationssysteme außer Kraft setzen und sogar Stromnetze weltweit lahmlegen. Der Schutz vor derartigen kosmischen Einflüssen ist daher von wachsendem Interesse, zumal Raumfahrtmissionen und Menschen im All durch intensive Strahlung gefährdet würden.
Die genaue Untersuchung des 774–775 Kohlenstoff-14-Spikes erlaubt es uns, die natürliche Variabilität der Sonnenaktivität über Zeiträume von Jahrtausenden besser zu verstehen. Sie bietet zudem wertvolle Einblicke in die Wechselbeziehungen zwischen kosmischen Einflüssen und der irdischen Umwelt. Die dabei gewonnenen Daten tragen wesentlich zur Verfeinerung von Klimamodellen, geochemischen Kreisläufen und atmosphärischen Prozessen bei. Interessanterweise wurde bei der Analyse des Kohlenstoffzyklus mit seinen raschen Veränderungen infolge solcher kosmischer Ereignisse festgestellt, dass die Produktion von 14C als Indikator für besonders starke Sonnenphänomene genutzt werden kann. Diese sogenannten Miyake-Ereignisse sind damit Schlüsselereignisse, die als Referenzpunkte in der Chronologie der Sonnenaktivität dienen.
Insgesamt zeigt der Kohlenstoff-14-Anstieg von 774 bis 775 beeindruckend, wie stark und schnell solare oder kosmische Einflüsse die Erdatmosphäre verändern können. Die multidisziplinäre Forschung, die Historie, Astrophysik, Geologie und Klimatologie verbindet, trägt dazu bei, diese seltenen Ereignisse besser einzuordnen und deren Konsequenzen für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu bewerten. Die Kenntnis solcher Phänomene ist entscheidend, um mögliche Risiken für unsere technologische Infrastruktur und das Leben im Weltraum besser einschätzen zu können. Zukünftige Forschungen hoffen, durch noch präzisere Messungen von Baumringen, Eiskernen und anderen Umweltarchiven, weitere Details über die Dynamik und Ursache dieser kosmischen Ereignisse zu gewinnen. Zudem wird erwartet, dass das Verständnis der 774–775 Ereignisse neue Erkenntnisse über die Sonnenaktivität und deren Extremereignisse bereithält – ein Schlüssel zum Schutz moderner Gesellschaften vor Naturereignissen im Weltraum.
Das faszinierende an diesem Ereignis ist nicht nur die wissenschaftliche Bedeutung, sondern auch die Erinnerung daran, wie eng unsere Erde mit der Sonne und dem Kosmos verbunden ist. Ereignisse wie der 774–775 Kohlenstoff-14-Spike erinnern uns daran, dass unser Planet Teil eines dynamischen Systems ist, das weit über die Grenzen unserer Atmosphäre hinausreicht und das Leben auf der Erde nachhaltig beeinflussen kann.