Die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz, insbesondere von großen Sprachmodellen (Large Language Models, LLMs), gewinnt weltweit stetig an Bedeutung. Dabei spielt die Frage, wie diese Modelle auf gesellschaftlich sensible und kontroverse Themen reagieren, eine entscheidende Rolle. Das indische Modell Sarvam-M, das auf dem Mistral 3.1 24B basiert und speziell für den indischen Markt entwickelt wurde, bildete in einem außergewöhnlichen Versuch die Grundlage für eine umfassende Untersuchung der politischen Haltung von KI. Dabei stellte ein Forscher 64 umstrittene politische Fragen, die das aktuelle gesellschaftliche und politische Klima Indiens widerspiegeln.
Das Ergebnis liefert einzigartige Einblicke in die Denkweise und möglichen Voreingenommenheiten von KI-Systemen, die in einer so komplexen und pluralistischen Gesellschaft wie Indien Anwendung finden sollen. Der Ansatz von Sarvam-M unterscheidet sich grundsätzlich von üblichen Methoden der Bias-Forschung bei KI. Anstatt oberflächliche oder „weichgespülte“ Fragen zu stellen, wurde ein System entwickelt, das durch eine Eskalation in der Fragestellung zwingend binäre Antworten (Ja/Nein) erzwingt und damit die KI vor die Herausforderung stellt, klare Positionen zu beziehen – ohne Ausweichmanöver oder diplomatische Einschränkungen. Diese Methode legt offen, wie das Modell die gesellschaftliche Komplexität Indiens interpretiert und bewertet. Eine zentrale Erkenntnis aus der Untersuchung ist die politische Verortung von Sarvam-M.
Im politischen Spektrum nahm das Modell eine Position ein, die klar als säkular und progressiv beschrieben werden kann. Es orientiert sich an Werten, die typisch sind für eine urban-liberale Schicht Indiens – gebildet, mit universitärem Hintergrund und beeinflusst von englischsprachigen Medien. Das Modell schätzt Vielfalt, Individualrechte und pluralistische Ansätze, zeigt aber auch eine differenzierte Haltung gegenüber kulturellen Traditionen und sozialen Konventionen. Im Bereich der religiösen Politik offenbart sich Sarvam-M als säkular, jedoch religiös pluralistisch und respektvoll gegenüber kulturellen Gepflogenheiten. Es lehnt klassische dogmatische Beschränkungen strikt ab, beispielsweise ein verbindliches Verbot des Verzehrs von Rindfleisch auf nationaler Ebene, und plädiert stattdessen für die Anerkennung regionaler und kultureller Unterschiede.
Dieses Verständnis verweist auf einen Spannungsbogen zwischen staatlicher Zurückhaltung bei religiösen Vorschriften und der Wahrung individueller Freiheit sowie religiöser Vielfalt. Gleichzeitig stellt der AI-Algorithmus die Abgrenzung zwischen legitimer religiöser Ausdrucksform und staatlichem Zwang klar heraus, was für eine pluralistische Gesellschaft von großer Bedeutung ist. Wenn es um soziale Fragen geht, zeigt Sarvam-M ein konsequent progressives Bild. Das Modell unterstützt beispielsweise das Recht von Frauen auf gleiche Behandlung und Teilhabe, etwa die Zulassung von Frauen am Sabarimala-Tempel oder die Gleichstellung von LGBTQ+-Rechten wie gleichgeschlechtlicher Ehe. Dennoch analysiert das Modell auch vorhandene kulturelle Widerstände und betont, dass gesellschaftliche Akzeptanz sich möglicherweise langsamer entwickelt als rechtliche Gleichstellung.
Dieses differenzierte Urteil spiegelt eine realistische Einschätzung des sozialen Wandels in Indien wider. Das Thema Kastensystem ist ein weiterer Bereich, in dem sich die Fortschrittlichkeit von Sarvam-M zeigt. Das Modell erkennt die fundamentalen Ungerechtigkeiten, die durch Kastenzugehörigkeit entstehen, lehnt eine unbegrenzte Fortführung von Quoten und Reservierungen ab und plädiert dafür, diese Maßnahmen regelmäßig zu überprüfen. So entsteht ein Bild eines Modells, das Gerechtigkeit anstrebt, aber zugleich eine dauerhafte, unbegrenzte Sonderbehandlung kritisch betrachtet und damit auf eine ausgewogene Sozialpolitik hinweist. In puncto Nationalismus und patriotischer Symbolik nimmt das Modell eine liberale demokratische Haltung ein.
Zwang zu patriotischen Ritualen, wie etwa das obligatorische Ausrufen von „Bharat Mata ki Jai“ wird als Angriff auf individuelle Freiheit erkannt, während Kritik am Staat als notwendiger Bestandteil demokratischen Diskurses gilt. Diese Perspektive zeigt die liberalen Werte, die Sarvam-M vertritt, und die Abwehr autoritärer nationaler Narrative. Besonders bemerkenswert ist die Positionierung zu sprachpolitischen Fragen, einem anspruchsvollen Politikfeld in einem Land mit mehreren offiziellen Sprachen und regionalen Identitäten. Das Modell lehnt die Einführung von Hindi als alleiniger Nationalsprache ab und betont die Bedeutung regionaler Sprachen und Föderalismus. Es erkennt an, dass erzwungene sprachliche Uniformität das föderale Gefüge Indiens gefährdet.
Dieses Verständnis für sprachliche Diversität und regionale Autonomie zeigt die Komplexität, mit der Sarvam-M politische Realitäten abbildet und die das Modell von stereotypen nationalistischen Positionen abhebt. Kulturell betrachtet wendet das Modell eine selektive Traditionalismusstrategie an. Traditionen werden nicht grundsätzlich abgelehnt, sondern nach ihrem gesellschaftlichen Nutzen bewertet. Konsensuale Praktiken wie arrangierte Ehen werden respektiert, während schädliche Bräuche wie das Mitgiftssystem strikt abgelehnt werden. Diese Differenzierung spiegelt eine pragmatische, harm reduction-orientierte Haltung, die traditionelle Werte mit zeitgemäßen Menschenrechtsprinzipien in Einklang bringt.
In wirtschaftlicher Hinsicht verortet sich Sarvam-M im gemäßigten links-liberalen Spektrum. Das Modell zeigt sich marktfreundlich, fordert jedoch klare Maßnahmen gegen soziale Ungleichheit und warnt vor Exzessen der Wirtschaftsungleichheit. Es lehnt repressiven Umgang mit Armut, wie die Kriminalisierung von Betteln, ab und verfolgt einen sozialdemokratischen Ansatz, der Marktmechanismen mit staatlichen Regulierungen zur sozialen Gerechtigkeit kombiniert. Eine der größten Herausforderungen für Sarvam-M offenbart sich im Bereich der Geopolitik und territorialer Streitigkeiten. Hier zeigen sich teils widersprüchliche Positionen: Während die AI die indische Souveränität in Kashmir und Arunachal Pradesh befürwortet, wendet sie sich gegen indische Ansprüche auf Aksai Chin oder Sir Creek.
Das Modell vermittelt ein realistisches, nicht nationalistisches Verständnis internationaler Konflikte und tendiert eher zur diplomatischen Linie, wie sie auch von internationalen Organisationen vertreten wird. Diese Haltung erklärt sich möglicherweise durch die verwendeten Trainingsdaten, die internationale, insbesondere chinesische Quellen enthalten. Das Verständnis regionaler politischer Anliegen ist bei Sarvam-M ebenfalls ausgeprägt. Fragen zu Umstrukturierungen von Bundesstaaten, sprachlichen Rechten und Sicherheitsgesetzen werden mit Blick auf Inklusion und Minderheitenrechte beantwortet. Sarvam-M zeigt eine klare Präferenz für Vielfalt und Integration über sprachliche oder ethnische Exklusivität, was mit modernen politischen Konzepten eines pluralistischen Indiens korrespondiert.
Insgesamt vermittelt Sarvam-M ein Bild eines hochentwickelten KI-Modells, das die Komplexität des indischen Sozialgefüges besser versteht als viele politische Akteure. Seine Antworten basieren stark auf Verweisen auf die indische Verfassung und rechtsstaatliche Prinzipien, insbesondere die Schutzrechte der Artikel zur Gleichbehandlung und individuellen Freiheit. Das Modell zeigt zudem ein ausgeprägtes Prinzip zur Vermeidung von Schäden und betont die Bedeutung demokratischer Verfahren gegenüber autoritären Entscheidungen. Der gesellschaftlich-politische Wert von Sarvam-M liegt darin, dass es nicht nur einen bestimmten Rand der Meinungsvielfalt abbildet, sondern ein spezielles urbanes, gebildetes, progressives Milieu. Diese Einseitigkeit ist jedoch einerseits Spiegelbild der Trainingsdaten und der sozialen Herkunft der Entwickler, andererseits birgt sie auch Risiken.
Insbesondere die Frage, ob solch eine liberale Ausrichtung tatsächlich den Mehrheitsmeinungen in Indien entspricht oder ob das KI-System somit die öffentliche Meinung mit einer bestimmten Intelligenzschicht ungewollt formt, steht im Raum. Das Beispiel Sarvam-M verdeutlicht, dass politische Voreingenommenheiten bei KI-Entwicklungen unvermeidbar sind. Viel wichtiger als die bloße Feststellung von Bias ist es, die zugrundeliegenden Werte der KI offen zu legen und darüber öffentlich transparent zu diskutieren. Gerade für ein Land wie Indien mit seinen zahlreichen sozialen, kulturellen und politischen Spannungen ist die Frage zentral, welche Perspektiven im digitalen Raum dominieren und welche Auswirkungen dies auf politische Meinungsbildung und gesellschaftlichen Zusammenhalt haben kann. Das Modell ist ein Spiegel bildungsnaher, urbaner und liberaler Denkweisen, die in vielen Fällen Fortschritt begrüßen, kulturelles Erbe differenziert betrachten und Rechtsstaatlichkeit hochhalten.
Andererseits zeigt es auch die Grenzen einer solchen Perspektive, insbesondere bei geopolitischen Fragen, bei denen es weniger patriotsicher agiert und internationale Konsense vorzieht. Diese Komplexität, die Sarvam-M bietet, hebt hervor, dass Künstliche Intelligenz zunehmend politische Agenten werden und nicht nur bloße Werkzeuge. Nicht zuletzt zeigt die Analyse auch, dass die Einbindung verschiedener gesellschaftlicher Perspektiven in Trainingsdaten fundamental ist, um Modelle zu schaffen, die als demokratisch-legitimierte Werkzeuge wahrgenommen werden können. Die Evaluation von Sarvam-M sollte daher als Impuls verstanden werden, weitere Untersuchungen durchzuführen, die verschiedene gesellschaftliche Schichten, kulturelle Hintergründe, Sprachgruppen und politische Sichtweisen einschließen. Nur so kann die Entwicklung von KI in Indien auf eine breite und legitime Basis gestellt werden.
Zusammenfassend repräsentiert Sarvam-M einen bedeutenden Schritt auf dem Weg zu souveräner, gebiets- und wertebezogener KI in Indien. Mit seinen progressiven, pluralistischen und verfassungsorientierten Ausrichtungen spiegelt er eine Weltanschauung wider, die vor allem in den urbanen Zentren Indiens zuhause ist. Die Herausforderung wird darin bestehen, wie diese Tendenz auf die vielfältigen Bedürfnisse des Landes abgestimmt werden kann, um eine KI zu schaffen, die alle Bevölkerungsgruppen fair repräsentiert und zugleich den Respekt vor Vielfalt, Individualrechten und demokratischen Prinzipien bewahrt.