Nathan Fielder ist mittlerweile vielen Fernsehzuschauern nicht nur als Comedian, sondern auch als meisterhafter Arrangeur komplexer sozialer Experimente bekannt. Seine HBO-Serie „The Rehearsal“ hebt sich durch die innovative Verbindung von Dokumentation, Comedy und Theater deutlich ab – und doch erreicht ihre zweite Staffel eine ganz neue Dimension, indem sie sich auf die Welt der Flugzeugpiloten konzentriert. Die Serie ist weit mehr als eine bloße Untersuchung des Fliegens – sie enthüllt, wie tief verankerte soziale Dynamiken und persönliche Unsicherheiten über Leben und Tod entscheiden können. Der Ausgangspunkt der neuen Staffel ist ein überraschendes, aber äußerst relevantes Phänomen: In zahlreichen Absturzberichten großer Flugkatastrophen zeigt sich, dass Co-Piloten häufig bewusst nicht eingreifen, obwohl sie gefährliche Situationen erkennen. Piloten, die in kritischen Momenten schweigen oder nur zögerlich warnen, haben damit katastrophale Unfälle indirekt mitverursacht.
Nathan Fielder greift dieses Thema auf und stellt die Frage, warum Menschen, deren Verantwortung es ist, in Notsituationen die Initiative zu ergreifen, oft blockiert sind. Die Antwort reicht tief in die Strukturen von Hierarchie, Angst und persönlicher Identität hinein. „The Rehearsal“ schafft es, eine hochgradig technische Branche, die Luftfahrtindustrie, mit zwischenmenschlichen Krisen zu verknüpfen – auf einer Ebene, die sofort nachvollziehbar, fast schon intim wirkt. Fielder nutzt die Realitätssimulation als sein Hauptwerkzeug und rekonstruiert passgenau die Situationen, in denen Co-Piloten mit innerem Konflikt kämpfen. Dabei entstehen ungewohnte Konstellationen: Pilot-Aspiranten und Schauspieler agieren gemeinsam in originalgetreuen Szenerien, wie etwa einem nachgebauten Terminal des George Bush Intercontinental Airport.
Diese Kulissen dienen nicht nur als Bühne für „Rehearsals“ – also Proben –, sondern auch als Mikrokosmos für menschliche Unsicherheiten in Extremsituationen. Was „The Rehearsal“ von anderen investigativen oder humoristischen Formaten unterscheidet, ist die große Investition, die Fielder in diese Experimente steckt. Der Aufwand und das Budget sind enorm: Illegale Grenzen werden ausgenutzt, Tausende Statisten werden engagiert, komplette Flugzeuge gemietet und exakte Nachbildungen von Flughafenterminals gebaut. Und obwohl alles akribisch geplant ist, bleiben die Situationen oft unvorhersehbar und das Ergebnis ist nicht immer klar in Hinblick auf die Wirkung auf reale politische oder industrielle Veränderungen. Doch genau das macht die Serie so fesselnd.
Im Kern ist „The Rehearsal“ eine Reflexion über die Rollen, die Menschen im Alltag übernehmen. Fielder zeigt, dass das, was wir spielen oder erdulden, unser Selbstverständnis prägt und uns zugleich einengt. Die sozialen Ängste, das Zögern und die schweigende Zustimmung, die in Cockpit-Dramen eine zentrale Rolle spielen, spiegeln die Schwierigkeiten wider, die jeder Mensch im Umgang mit Macht, Verantwortlichkeit und Nähe erlebt. Über den Flugzeugkontext hinaus sind es zwischenmenschliche Konflikte, Kommunikationsblockaden und das Bedürfnis nach Kontrolle, die im Mittelpunkt stehen. Neben seinem klaren Fokus auf Luftfahrtprotokolle beleuchtet die Serie auch Nathan Fielder selbst.
Seine eigene Identität, seine Rolle als Performer und sein innerer Zwiespalt treten zunehmend in den Vordergrund. Die Staffel dokumentiert Felders jahrelange Ausbildung zum Piloten – ein persönliches Abenteuer, das vor allem seinen obsessiven Charakter widerspiegelt. Sein Bestreben, selbst ein Flugzeug zu steuern, ist viel mehr als eine Inszenierung. Es ist eine Suche nach Selbstverständnis und Ausdruck in einer Welt, in der Menschen sich oft hinter Rollen und Masken verstecken. Besonders eindrucksvoll ist die Episode, in der Fielder die Gedankenwelt von Chesley Sullenberger, dem Piloten des berühmten „Miracle on the Hudson“, nachempfindet.
Diese Inszenierung eines Moments in Sullenbergers Kindheit erfolgt in surrealer Szenerie mit übergroßem Bühnenbild und Schauspielern auf Stelzen – ein faszinierendes visuelles Experiment, das die fragile, zugleich entfernte Natur von Erinnerungen und Prägungen einfängt. Das Spiel mit Maß und Perspektive wird hier zum Symbol für die Art und Weise, wie Fielder Erinnerungen und Gefühle reproduziert – stets irgendwo zwischen authentisch und bizarr. Ein weiteres Highlight der Staffel ist der Umgang mit sozialen Ängsten und neurodivergenten Aspekten. Fielder bringt subtil das Thema einer möglichen Autismus-Diagnose in die Inszenierung ein, was einen weiteren Grad der Selbsterforschung und persönlichen Verletzlichkeit hinzufügt. Dies ist keine einfache Dokumentation über eine Diagnose, sondern vielmehr ein nie vollends aufgeklärtes Element, das die Komplexität von Identität und Selbstwahrnehmung unterstreicht.
Neben der psychologischen Tiefe ist „The Rehearsal“ auch ein Kommentar zur Macht und zum Wesen des Schauspielens selbst. Wenn Menschen bereit sind, Rollen anzunehmen – und diese Rolle die eines anderen Menschen sein kann –, wird eine Vielzahl von menschlichen Haltungen und Dynamiken sichtbar. Fielder zeigt, wie „echtes Leben“ und „gespieltes Leben“ verschwimmen. Die Schauspieler übernehmen private Rollen mit aller Verletzlichkeit, während der eigentliche Kern der Übung darin besteht, Authentizität zu fingieren. Die Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion verschwimmt zunehmend, wodurch eine messerscharfe Analyse des Sozialverhaltens erwächst.
Der von Fielder geplante Flug mit einem 737-Flugzeug – gefüllt ausschließlich mit Schauspielern – dient als experimentelles Finale für die Staffel. Trotz seiner unzureichenden Erfahrung gelingt es ihm, mit einer Handvoll Personen, darunter einem Co-Piloten, eine Situation zu schaffen, die die anfangs analysierten Probleme reproduziert. Der Co-Pilot reagiert wie in realen Black-Box-Protokollen, aus Angst oder Zurückhaltung distanziert und handlungsunfähig. Dieses Ergebnis mag erschreckend sein, doch es illustriert meisterhaft die These, dass nicht die individuelle Persönlichkeit zählt, sondern die Rolle, die man bereitwillig spielt. Nathan Fielders „The Rehearsal“ steht für ein neues Fernseherlebnis, das Humor, Drama, psychologische Tiefe und ästhetische Originalität vereint.